Arbeitszeiterfassung für mehr Arbeitsschutz
Weil sie so unglaublich ist, hier noch einmal die Zahl: 2022 haben Arbeitnehmer*innen in Deutschland 702 Millionen unbezahlte Überstunden gemacht. Der Wert der Arbeit, den sie damit einfach so verschenkt – und mit ihrer eigenen Lebenszeit bezahlt – haben, beträgt genauso unglaubliche 15 Milliarden Euro. Davon könnte eine 4-köpfige Familie 2,9 Millionen Mal in Urlaub fahren.
Um solche Entwicklungen zu stoppen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits 2019 entschieden, dass alle Mitgliedstaaten der EU dafür sorgen müssen, dass die tägliche Arbeitszeit der Beschäftigten in ihrem Land erfasst und gemessen wird. Die Arbeitgeber müssen verpflichtet werden, dafür ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Verfügung zu stellen.
2022 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass in Deutschland auch ohne weitere Umsetzungsschritte des Gesetzgebers die gesamte Arbeitszeit erfasst werden muss. Das heißt: Es gibt auch bei uns eine gesetzliche Pflicht, die tägliche Arbeitszeit zu dokumentieren. Bislang galt das nur für Überstunden und Sonntagsarbeit. Die Begründung des Gerichts: besserer Arbeitsschutz für Beschäftigte.
... sondern Grundbedingung, damit Ruhe- und Höchstarbeitszeiten eingehalten werden – was heutzutage viel zu oft nicht der Fall ist.
Arbeitszeiterfassung: Wir beantworten die wichtigsten Fragen
Welche Rolle spielt der Arbeitsschutz beim Urteil des BAG zur Arbeitszeiterfassung?
Fragen des Arbeitsschutzes sind ganz tragend für die Entscheidungen des EuGH und des BAG. Der EuGH hat eine ziemlich offensichtliche Erkenntnis in Rechtsprechung gegossen: Ob Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten eingehalten werden, kann man nur wissen, wenn man die Arbeitszeit erfasst. Das Bundesarbeitsgericht hat dann klargestellt: Arbeitnehmer*innen können sich auf das deutsche Recht stützen, wenn es darum geht, ihren Anspruch auf einen effektiven Arbeits- und Gesundheitsschutz durchzusetzen – auch im Hinblick auf die Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung leitet das BAG aus dem Arbeitsschutzgesetz ab. Genauer gesagt aus § 3 Abs. 1 Nr. 1 ArbSchG: Der Arbeitgeber hat zur Sicherstellung der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer*innen eine geeignete Organisation zu schaffen und die erforderlichen Mittel bereit zu stellen.
Was müssen Arbeitgeber für die Arbeitszeiterfassung tun?
Arbeitgeber müssen jetzt aktiv werden: Sie müssen ein System einführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit verlässlich erfasst werden kann. Wenn der Arbeitgeber dieser Verpflichtung trotz Aufforderung nicht nachkommt, können sich Beschäftigte an die Arbeitsschutzbehörden wenden, die für die Überwachung des Arbeitsschutzes zuständig sind.
Überstunden können mit einer verlässlichen Arbeitszeiterfassung sichtbar gemacht werden. Überlange Arbeitszeiten, zu wenig Pausen und Ruhephasen sind gesundheitsschädlich.
Was bedeutet das BAG-Urteil zur Arbeitszeiterfassung für Betriebsräte?
Betriebsräte können die Initiative ergreifen und ihr Mitbestimmungsrecht beim Arbeits- und Gesundheitsschutz auch hinsichtlich der Frage der Arbeitszeiterfassung einfordern.
Bei der Frage, wie die Arbeitszeiterfassung konkret ausgestaltet wird, ist der Betriebsrat in der vollen Mitbestimmung nach § 87 Nr. 7 BetrVG. Das hat das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil ausdrücklich klargestellt: Dem Betriebsrat steht für die Ausgestaltung des Systems zur Erfassung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit ein Initiativrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG in Verbindung mit § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG zu.
Was ändert sich an der Vertrauensarbeitszeit und im Homeoffice?
Vertrauensarbeitszeiten und Homeoffice sind weiter möglich. Arbeitgeber müssen ihrer Verpflichtung zum Arbeitsschutz aber auch bei diesen Modellen nachkommen. Im Klartext: Sie müssen dafür sorgen, dass Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten eingehalten werden – und zwar indem sie ein objektives, verlässliches und zugängliches System einführen, mit dem die Arbeitszeit erfasst wird. Vollkommen abwegig ist die oft von Arbeitgebern geäußerte Fantasie von der Rückkehr der Stechuhr.
Das zeugt von mangelnder Vorstellungskraft. Wir leben im digitalen 21. Jahrhundert, eine Zeiterfassung ist so einfach wie nie zuvor. Sie widerspricht auch nicht dem Bedürfnis vieler Arbeitnehmer*innen nach flexibler Arbeitszeitgestaltung, ganz im Gegenteil. Denn Arbeitszeiterfassung darf man nicht mit Präsenz an einem Ort – zum Beispiel dem Büro – gleichsetzen.
Welche Kriterien muss ein System zur Arbeitszeiterfassung erfüllen?
Die Arbeitszeit muss mit einem objektiven, verlässlichen und zugänglichen System erfasst werden.
Zeiterfassung gilt nur als objektiv, wenn ihr nachweislich die Arbeit zugrunde liegt, die auch tatsächlich erbracht wurde. Es ist rechtlich in Ordnung, dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeit selbst erfassen. Arbeitgeber sind aber verpflichtet, die Arbeitszeitdokumentation zu prüfen und sicherzustellen, dass sie eingreifen können, wenn Beschäftigte weiterarbeiten, obwohl Höchstarbeitszeiten überschritten werden. Verlässlich ist die Erfassung dann, wenn sie unverzüglich erfolgt und alle geleistete Arbeit umfasst – also auch Bereitschaftszeiten und Zeiten von Arbeitsbereitschaft.
Zugänglich sein muss die Zeiterfassung zum einen für Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber, zum anderen für Aufsichtsbehörden und Interessenvertretungen in den Betrieben und Dienststellen. Zu erfassen ist die Zahl der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden. Damit die täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten und Pausen eingehalten werden reicht es nicht, nur die Zahl der geleisteten Stunden zu dokumentieren: Auch Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit müssen festgehalten werden.