Die Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland sind gewaltig: Marode Infrastruktur, das Bildungssystem fällt im internationalen Vergleich ab oder die sozial-ökologische Transformation – ohne eine Reform der Schuldenbremse wird das Land daran scheitern, warnt der Ökonom und Wirtschaftsweise Achim Truger. Er fordert die kommende Bundesregierung auf, das Thema weit oben auf die Prioritätenliste zu setzen. Truger ist einer von insgesamt 51 Wissenschaftler*innen, die gemeinsam für eine Reform der Schuldenbremse werben.
Die deutsche Wirtschaftspolitik steht vor gigantischen Herausforderungen. Der deutschen Wirtschaft droht im Jahr 2025 das 3. Rezessionsjahr in Folge. Seit 6 Jahren steckt sie schon in der Krise und ist seit 2019 in Summe nicht gewachsen. Nach dem Corona- und dem Energiepreis- und Inflationsschock kommt die Erholung nicht in die Gänge. Der sonst so zuverlässige Exportmotor stottert, neue Konkurrenz aus Asien sowie die von US-Präsident Donald Trump angezettelten Zölle drohen ihn komplett lahmzulegen. Der private Konsum schwächelt und die Investitionen springen nicht an.
Gleichzeitig müssen riesige zusätzliche öffentliche Ausgabenbedarfe gestemmt werden. Die Energiekrise sowie die Transformation zur Klimaneutralität erfordern öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Netzausbau sowie Förderprogramme zur Unterstützung von Unternehmen und privaten Haushalten. Die neue geopolitische Situation sowie die geänderte militärische Bedrohungslage werden mit einer massiven Erhöhung der Verteidigungsausgaben einhergehen. Zudem wird die Finanzpolitik von ihren Versäumnissen in der Vergangenheit eingeholt. Die öffentliche Infrastruktur, gerade im Verkehrsbereich, ist zunehmend marode, die kommunale Infrastruktur und damit die öffentliche Daseinsvorsorge von großen Investitionslücken geprägt. Das deutsche Bildungssystem fällt im internationalen Vergleich mit schlechten Pisa-Testergebnissen zurück. Wie hoch die Kosten der Behebung des Investitionsstaus und der Bewältigung der akuten Herausforderungen sind, lässt sich nicht genau berechnen. Verschiedene Studien kommen jedoch übereinstimmend auf zusätzliche Ausgabenbedarfe für öffentliche Zukunftsinvestitionen in Höhe von mittleren bis hohen zweistelligen Milliardenbeträgen pro Jahr.
Ohne Reform der Schuldenbremse wird die deutsche Finanz- und Wirtschaftspolitik an den Herausforderungen scheitern. Erst recht nach dem strengen Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023 beschränkt sie übermäßig die Nettokreditaufnahme von Bund und Ländern in kontraproduktiver Weise. Aktuell ist der Konsolidierungsdruck bei Bund, Ländern und Gemeinden hoch. Aufgrund der anhaltenden Wirtschaftsschwäche bleiben die Einnahmen immer weiter hinter den Erwartungen zurück, während die Ausgaben inflationsbedingt gestiegen sind. Nach den schon seit 2023 im Fokus stehenden Kürzungsdebatten im Bundeshaushalt, werden perspektivisch immer mehr Länder- und Kommunalhaushalte erfasst. Dabei sind Ausgabenkürzungen, die erfahrungsgemäß zuerst die öffentlichen Investitionen treffen, offensichtlich das Letzte, was die schwächelnde Wirtschaft braucht.
Die deutsche Schuldenstandsquote von um die 64 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im EU-Vergleich sehr niedrig, und das Haushaltsdefizit mit unter 3 Prozent des BIP moderat, sodass eine etwas höhere Staatsverschuldung in Deutschland völlig unbedenklich wäre.
Die Gegner der Schuldenbremse hatten seit deren Einführung 2009 zu Recht darauf hingewiesen, dass sie zu geringe Spielräume für öffentliche Investitionen und zur Konjunkturstabilisierung gewähre und daher über kurz oder lang schwere gesamtwirtschaftliche Schäden anrichten könne. Mittlerweile ist die Reformbedürftigkeit der Schuldenbremse zum ökonomischen Mainstream geworden und nur noch wenige finanzpolitische Hardliner sehen keinen Änderungsbedarf.
Eine grundsätzliche Reform der Schuldenbremse im Grundgesetz sollte daher auf der Prioritätenliste der neuen Bundesregierung nach der Bundestagswahl weit oben stehen. Die Reform muss 2 Anforderungen erfüllen: Erstens muss sie die Spielräume für öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Forschung und Entwicklung, Transformation sowie Verteidigungsfähigkeit deutlich erhöhen. So könnten öffentliche (Netto-)Investitionen in geeigneter Definition von der Schuldenbremse ausgenommen werden, damit sie unabhängig von der Haushaltslage und evtl. bestehendem Konsolidierungsdruck sicher getätigt werden können („Goldene Regel“). Um Sorgen bezüglich der Übernutzung und mangelnder Nachhaltigkeit zu zerstreuen, könnte – wie jüngst selbst von der Bundesbank angeregt – eine Obergrenze von z.B. 1,5 Prozent des BIP angesetzt werden. Auch ein im Grundgesetz verankertes kreditfinanziertes Sondervermögen für genau diese Punkte außerhalb der Schuldenbremse wäre möglich.
Zweitens sollte über mehrere Jahre ein schrittweiser Ausstieg aus der Nutzung von Notlagenkrediten ermöglicht werden, damit nach Ende der Notlage keine abrupten Konsolidierungsschritte gefordert werden. Bei Einführung der Schuldenbremse mussten die hohen Defizite aus der Finanzkrise auch nicht in einem Schlag reduziert werden, sondern es gab eine Übergangsfrist von sechs Jahren für den Bund und zehn Jahren für die Länder. Nach einer solchen Reform wären die öffentlichen Haushalte in Deutschland spürbar besser für die großen Herausforderungen aufgestellt. Wäre sie im vergangenen Jahr in Kraft gewesen, hätte auch die Ampel-Regierung nicht an der Schuldenbremse zerbrechen müssen.
Achim Truger, Prof. Dr.: Professor für Sozioökonomie mit Schwerpunkt Staatstätigkeit und Staatsfinanzen an der Universität Duisburg-Essen. Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Email: achim.truger@uni-due.de