Bereits 2019, in ihrer Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament, hatte Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, sie wolle „einen Rechtsrahmen vorlegen, der sicherstellt, dass jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen gerechten Mindestlohn erhält.“ Mit ihrem Vorschlag einer „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU“ ist die Europäische Kommission diesem Versprechen nun nachgekommen.Die Idee dahinter ist nicht trivial: Es geht der Kommission mitnichten darum, einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn für die gesamte EU festzusetzen. Vielmehr will sie gemeinsame Mindestanforderungen formulieren, die die Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihrer nationalen Mindestlöhne erfüllen müssen. Um damit nicht in die Tarifautonomie und die sozialpartnerschaftliche Lohnfindung einzugreifen, hat die Richtlinie auch zum Ziel, tarifvertraglich vereinbarte Mindestlöhne zu schützen und zu fördern. Letzteres ist angesichts der seit Jahren sinkenden Tarifbindung in Europa besonders wichtig.
Ist die EU zuständig?
Über diesen Richtlinienvorschlag ist eine hitzige Debatte entbrannt – nicht wegen der Förderung von Tarifverträgen, sondern aufgrund der geplanten Festsetzung von Untergrenzen für die Bemessung gesetzlicher Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten. Die Gegner*innen des Vorstoßes werfen der Kommission vor, dass die EU nicht über die nötigen Kompetenzen verfüge, um einen bindenden Rahmen für die Bemessung von Mindestlöhnen in den Mitgliedstaaten zu erlassen.
Mit Verweis auf Art. 153 (5) des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV), der die „direkte Lohnfestsetzung“ dezidiert aus dem Kompetenzbereich der EU ausnimmt, behaupten Kritiker*innen, dass der Mindestlohnrahmen nicht mit den Europäischen Verträgen vereinbar sei: Die EU sei weder kompetent noch zuständig. Dass dem nicht so ist, wollen wir im Folgenden zeigen.
Wieso ein Mindestlohnrahmen in der Kompetenz der EU liegt
Als Rechtsgrundlage für ihren Vorschlag beruft sich die Europäische Kommission auf Art. 153 (1) (b) AEUV, der der EU eine unterstützende und ergänzende Rolle bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen in den Mitgliedstaaten verleiht. Wie bei allen Bereichen, in denen die EU unterstützend tätig werden kann, müssen die getroffenen Maßnahmen zwei Kriterien erfüllen: Sie müssen subsidiär sein, dürfen also nicht in die Aufgaben eingreifen, die die Mitgliedstaaten auch ohne die EU erledigen können; und sie müssen verhältnismäßig sein, das heißt so wenig wie möglich und so viel wie nötig in die Politik der Mitgliedstaaten eingreifen.
Der Mindestlohnrahmen erfüllt beide Kriterien: Er ist subsidiär, weil die Mitgliedstaaten weiterhin für die konkrete Festsetzung und Ausgestaltung ihrer Mindestlöhne zuständig sind. Und er ist verhältnismäßig, da derzeit nicht alle Lohnuntergrenzen in den Mitgliedstaaten existenzsichernd sind und der Binnenmarkt ein „level playing field“, also faire Wettbewerbsbedingungen, auch in Lohnfragen erfordert. Europäisches Handeln ist hier angesichts der Ziele der EU also nötig und zielführend.
Das von den Gegner*innen der Maßnahme ins Feld geführte „Spannungsverhältnis“ zwischen Art. 153 (1) (b) AEUV und Art. 153 (5) AEUV ist kein Hinderungsgrund für den Vorschlag der Kommission. Denn es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb die fehlende EU-Kompetenz für die „direkte Lohnfestsetzung“ (wie in Art. 153 (5) AEUV festgeschrieben) einer Rahmenrichtlinie für angemessene Mindestlöhne durch die EU nicht im Wege steht:
- Der erste Grund mag tautologisch erscheinen: Dass die EU keine „direkte Lohnfestsetzung“ betreiben darf, hindert sie nicht daran, dies indirekt zu tun. In der Tat nimmt Art. 153 (5) AEUV nur solche Regelungen von der EU-Kompetenz aus, die unmittelbar in das Arbeitsentgelt eingreifen. Der Plan der Kommission ist es jedoch, einen Rahmen zu schaffen, der die Mindestlöhne gemessen an den jeweiligen Median- oder Durchschnittslöhnen in den Mitgliedstaaten auf ein existenzsicherndes Niveau bringt. Die Wirkung der Richtlinie ist damit lediglich mittelbar, da durch die Regelung der nationale Mindestlohn nicht direkt festgelegt wird, sondern dies weiterhin in den Händen der Mitgliedstaaten liegt.
- Es gibt bereits einige Beispiele für derartige mittelbare Eingriffe in die Lohnfestsetzung durch das EU-Recht: Europäische Regelungen zum Mutterschutz, zum Jahresurlaub und betreffend die Entsendung von Beschäftigten greifen ebenfalls indirekt in die Festlegung von Löhnen ein. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Legitimität dieser Maßnahmen mehrfach bestätigt: Damit die EU ihrem Harmonisierungsauftrag in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik gerecht werden kann, muss die Bereichsausnahme durch Art. 153 (5) AEUV eng ausgelegt werden, da ansonsten für Art 153 (1) (b) AEUV, der die EU-Kompetenz für das Gebiet der Arbeitsbedingungen festlegt, kein Raum bliebe. Das bedeutet, dass die Ausnahme der Lohnfestsetzung nicht die Wirksamkeit anderer Maßnahmen beeinträchtigen darf, die bspw. Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt oder Erwerbsarmut bekämpfen.
- Dass die Förderung von würdigen Arbeitsbedingungen und damit auch existenzsichernden Löhnen ein Ziel der EU darstellt, ist mehrfach in den Europäischen Verträgen verankert. Zu nennen sind bspw. Art. 3 des Vertrags über die EU und Art. 8 AEUV, die die EU verpflichten, sozialer Ausgrenzung und Ungleichheiten entgegenzuwirken, sowie Art. 151 AEUV, der die Zielsetzungen der Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer für die EU als bindend anerkennt.
- Der Mindestlohnrahmen ist auch für das Funktionieren des Binnenmarktes relevant: In Bezug auf grenzüberschreitende Beschäftigung hat der EuGH bereits anerkannt, dass die Verhinderung von Wettbewerbsunterschieden aufgrund unterschiedlicher Lohnniveaus ein legitimes Ziel von EU-Recht ist. Dabei darf sich die EU allerdings nicht auf den Bereich der grenzüberschreitenden Tätigkeiten beschränken: Lohnunterschiede im Binnenmarkt schaffen auch dann Wettbewerbsvorteile, wenn Arbeit innerhalb nationaler Grenzen stattfindet. Die Mindestlohnrichtlinie leistet hier einen Beitrag, indem sie Lohnunterschiede reduziert – und so auch prekär Beschäftigte vor Diskriminierung schützt. Der Kampf gegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ist eines der prägendsten Motive der Harmonisierung von Arbeits- und Sozialrecht durch die EU. Auch der EuGH hat in einer Vielzahl von Entscheidungen die Anwendung des Europäischen Antidiskriminierungsrechts verteidigt.
Fazit
Blickt man auf die Europäischen Verträge, das bestehende Sekundärrecht und die Rechtsprechung des EuGH, so spricht nichts gegen die Einführung eines Rahmens für angemessene Mindestlöhne auf Grundlage von Art. 153 (1) (b). Eine solche Rahmenrichtlinie trägt zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzungen bei, fördert die Sicherung existenzsichernder Löhne und wirkt der Diskriminierung prekär beschäftigter Gruppen entgegen. Darüber hinaus fördert sie die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern (Art. 157 (1) AEUV), gleicht die nach wie vor beträchtlichen Unterschiede im Lohnniveau auf dem Binnenmarkt an und macht diesen damit für die Unternehmen fairer und die Beschäftigten sozialer.
Das vom Deutschen Gewerkschaftsbund in Auftrag gegebene Gutachten zur Statthaftigkeit eines EU-Rechtsrahmens für gesetzliche Mindestlöhne, auf dem dieser Beitrag basiert, finden Sie in voller Länge hier.