Video zur Sommertour
Station Uniklinik Köln
Vor gut einem Jahr endete der größte unbefristete Streik in der Geschichte des Gesundheitswesens in der Bundesrepublik: Nach 77 Tagen Streik hatten die Beschäftigten der nordrhein-westfälischen Unikliniken mit ihrer Gewerkschaft ver.di den Tarifvertrag "Entlastung" erkämpft. Der Name ist Programm – so enthält der Tarifvertrag zahlreiche Regelungen, um das überlastete Krankenhauspersonal endlich zu entlasten: z.B. mehr Personal für die Betreuung von Patient*innen und mehr Freizeit als Ausgleich bei Überlastung.
Das wurde im Tarifvertrag "Entlastung" erreicht
Verbesserungen durch Tarifvertrag: Entlastung schon jetzt spürbar
Bei der Streik-Organisation waren im letzten Jahr Dominik Stark und Kira Hülsmann mit dabei. Sie arbeiten beide in der Intensivpflege der Universitätsklinik Köln und engagieren sich ehrenamtlich bei ver.di. Heute führen die 2 das DGB-Vorstandsmitglied Körzell zum ehemaligen Streikposten: "Hier wurde unseren Kolleg*innen das Streikgeld ausgezahlt. Und hier machten wir mit Schildern und Rufen unsere Forderungen deutlich", erzählt Stark und weist auf das gegenüberliegende Gebäude: "Dort sitzt die Klinikleitung, die uns so nicht ignorieren konnte."
Der Tarifvertrag ist zum 1. Januar 2023 in Kraft getreten. "Auch wenn es noch dauert, bis alle Punkte des Tarifvertrags voll greifen, merke ich jetzt schon, wie sich etwas auf meiner Station ändert. Wir können immer häufiger in angemessen besetzten Schichten arbeiten", sagt Hülsmann.
Nur Gewerkschaften können Tarifverträge abschließen
Voraussetzung für diesen Erfolg war, dass die Kolleg*innen zusammengehalten haben und bei der Gewerkschaft ver.di-Mitglied sind. Denn nur eine Gewerkschaft kann einen Tarifvertrag mit Arbeitgebern aushandeln und unterstützt die Beschäftigten bei ihren Arbeitskämpfen. Dabei gilt: Je mehr Mitglieder sie in einer Branche zählt, desto mehr Macht hat sie – und desto besser sind dann auch die Tarifabschlüsse. "Tarifverträge fallen nicht vom Himmel, sondern müssen von den Beschäftigten gemeinsam mit ihrer Gewerkschaft erkämpft werden", ergänzt Körzell den Bericht der beiden. "Uns ist noch nie etwas geschenkt worden, egal ob 5-Tage-Woche, bezahlter Urlaub oder die 35-Stunden-Woche – alles musste hart erstritten werden."
Station Lieferando
Tarifvertrag soll Rider*innen vor Ausbeutung schützen
Das ist an diesem gewittrigen Sommertag auch die Botschaft, die Till Nüsse und Sarah Schmitz ihren Kolleg*innen bei Lieferando vermitteln wollen. Sie arbeiten in Köln als Fahrradkuriere – sogenannte Rider – bei dem Essenslieferdienst und sind auch vor Ort im Betriebsrat. Außerdem sind Nüsse und Schmitz Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Gemeinsam mit der NGG wollen die Rider den ersten Tarifvertrag in der deutschen Lieferdienstbranche erkämpfen. Der soll sie vor Ausbeutung und Willkür schützen und die Arbeitsbedingungen deutlich verbessern. "Aktuell fühlen wir uns oft wie Beschäftigte zweiter Klasse", kritisiert Schmitz. Während das Unternehmen den Fahrer*innen mit einem Bonussystem Anreize für risikoreiche Fahrmanöver schafft – die in der LKW-Branche seit den 1970ern verboten sind! – stellt Lieferando seinen Bürobeschäftigten Boni in Form von Bestellgutscheinen aus. Das ist eine unzulässige Ungleichbehandlung, urteilte zuletzt auch ein Gericht, berichtet Nüsse.
"Das sind alles keine Einzelfälle, sondern das Unternehmen beutet seine Kuriere systematisch aus. Es ist gut, dass die Kolleg*innen dieser Ausbeutung jetzt mit einem Tarifvertrag einen Riegel vorschieben wollen", stärkt Körzell den Kölner*innen den Rücken. "Es ärgert mich, dass wir hier in dieser noch relativ neuen Branche von digitalen Lieferdiensten wieder Kämpfe führen müssen, von denen wir dachten, wir hätten sie längst überwunden." Gut, dass Betriebsräte und Tarifverträge weiterhin die wirksamsten Instrumente für Beschäftigte sind in ihrem Kampf für gute Arbeit.
Gewerkschafter*innen streiken für Tarifvertrag bei Lieferando
Doch um diese Macht weiß auch Lieferando: Immer wieder versucht das Unternehmen, den Betriebsrat in seiner Arbeit zu behindern. Immer wieder landen Fälle vor Gericht und werden im Sinne der Arbeitnehmervertreter*innen entschieden. Bisher weigert sich das Management außerdem vehement, sich mit der Gewerkschaft an einen Tisch zu setzen, um einen Tarifvertrag auszuhandeln. Deshalb sind die Rider in den letzten Wochen bereits fünfmal in den Warnstreik getreten. In Frankfurt, Köln, Dresden, Dortmund und Berlin ist es gelungen, die digitale Auftragsvergabe zum Erliegen zu bringen. Der Arbeitgeber zeigt sich bislang davon unbeeindruckt. Weitere Streiks sollen folgen.
"Nur wenn wir zusammen streiten, haben wir Macht"
Heute hat die NGG deshalb die Lieferant*innen zur Waschstraße eingeladen: Sie können ihre Autos, mit denen ein Teil das Essen für Lieferando ausliefert, kostenlos waschen. Auch für Fahrradkurier*innen liegen Reinigungsmittel und Fahrradwerkzeug bereit. Das Ziel der Gewerkschafter*innen: mit den Kolleg*innen ins Gespräch kommen, um sie von den Vorteilen eines Tarifvertrags zu überzeugen. "Wir wollen mehr Kolleg*innen motivieren, Gewerkschaftsmitglied zu werden und mit uns zu streiken. Nur wenn wir zusammen streiten, haben wir Macht", erklärt Nüsse.
Eckpunkte: Das will die NGG mit einem Tarifvertrag bei Lieferando erreichen
Die Gewerkschaft NGG fordert das Unternehmen Lieferando auf, in Tarifverhandlungen zu treten. Mit diesen zentralen Forderungen soll der Tarifvertrag die Arbeitsbedingungen der Essenslieferant*innen verbessern:
- Verdienst auf mindestens 15 Euro pro Stunde erhöhen, nach 12 Monaten 16 Euro, nach 24 Monaten 17 Euro
- Boni in der Peaktime, am Wochenende und bei Kälte/Hitze von je 1 Euro pro Stunde
- 6 Wochen Urlaubsanspruch
- Volle Bezahlung der letzten Fahrt nach Hause
- Erhöhung der Kilometer-Pauschale auf 0,50 Euro/km netto für die Kolleg*innen, die mit dem Auto ausliefern sowie 0,30 Euro/km netto für Rollerfahrer*innen
- Mitbestimmung bei Software, Datenschutz und mehr
Station Molkerei Niesky
Tarifverträge erstmals abschließen ist besonders hart
Es ist immer härter, einen Tarifvertrag dort abzuschließen, wo es bisher keinen gab. "Die Kolleginnen und Kollegen, die sich hier durchsetzen, beweisen einen starken Willen. Sie sind Vorbilder – gerade da, wo Tarifkampf Häuserkampf ist", sagt Körzell beim nächsten Stopp seiner Sommertour in der Molkerei Niesky in der sächsischen Oberlausitz. "Der Betriebsrat der Molkerei Niesky hat es vorgemacht. Dabei hat er nicht nur den eigenen Standort in die Tarifbindung gebracht, sondern den zweiten – Olbernhau – in Sachsen mitgezogen."
Im August 2022 gelang der NGG hier erstmals ein Tarifabschluss. Die Beschäftigten profitierten davon enorm:
- ein Lohnplus von 27 bis 40 Prozent,
- erstmals Weihnachts- und Urlaubsgeld,
- mehr Urlaubstage.
"Wir haben das für unsere Zukunft und die unserer Kolleginnen und Kollegen hier in Niesky gemacht. Wir wollen hier arbeiten, aber zu ordentlichen Löhnen und Arbeitsbedingungen. Dem sind wir mit Unterstützung der NGG einen ersten riesigen Schritt näher gekommen", so Robin Poskowski, Betriebsratsvorsitzender in Niesky, der gelernter Milchtechniker ist.
Auf den 1. folgt der 2. Schritt, das steht für seine Betriebsratskollegin Franziska Laske, ebenfalls Milchtechniker, fest. "Unser Tarifvertrag läuft Ende August aus. Ab September verhandeln wir mit dem Arbeitgeber wieder. Unser Ziel ist die Angleichung an den Tarifvertrag Milch Ost. Und dieses Mal machen wir das gemeinsam und zeitgleich mit unserem Schwesterbetrieb in Olbernhau."
Das Engagement der Betriebsrät*innen ist vom DGB Sachsen mit dem Mitbestimmungspreis 2023 ausgezeichnet worden.