Mythen über den Sozialstaat

Ein Gastbeitrag der Hans-Böckler-Stiftung

Datum

Dachzeile einblick Februar 2025

Es ist Wahlkampf – und der Sozialstaat steht wieder in der Diskussion. Behauptet wird unter anderem, die Sozialausgaben seien zu hoch und Sozialleistungen seien zu einfach verfügbar und machten Menschen unproduktiv und faul. Allein: Durch die Diskussion geistern Mythen.  

Sie verfangen, weil sie einfache Geschichten erzählen, durch eine alarmistische Darstellungsweise Aufmerksamkeit erzeugen und anschlussfähig an Einzelbeobachtungen und Meinungen sind. Bei näherer Betrachtung stellen sie sich jedoch als verkürzte Darstellung komplexer Sachverhalte oder als gänzlich falsch heraus. Solche Mythen bieten keine echten Lösungen, sondern tragen schlimmstenfalls dazu bei, vulnerable Gruppen gegeneinander auszuspielen, Vertrauen in Sozialpolitik zu unterminieren und Ressentiments zu schüren. Es ist daher wichtig, solche Mythen in den Blick zu nehmen und die zugrundeliegenden Behauptungen, aber auch Politikvorschläge einer Überprüfung zu unterziehen und evidenzbasiert einzuordnen.

Aktuell kreisen viele Behauptungen und Vorschläge um den Vorwurf, Menschen in Deutschland seien arbeitsunwillig – und der Sozialstaat trage eine Teilschuld daran, denn er stelle mehr oder minder voraussetzungslos zu umfangreiche Leistungen zur Verfügung. Daher wird Sozialstaatsabbau gefordert: Höhere Hürden für Krankmeldungen, strengere Regeln für Grundsicherungsbeziehende, längere Lebensarbeitszeiten. Aber sind die Forderungen gerechtfertigt, noch dazu angesichts eines Höchststandes an Beschäftigung? 

Fehlzeiten: Welche Rolle spielt die Lohnfortzahlung?

Der Krankenstand steht auf einem hohen Niveau. Teils wird suggeriert, dass Entgeltfortzahlung und Lohnersatzleistungen dabei eine wichtige Rolle spielten. Diese böten Anreize für Krankmeldungen und führten so zu hohen wirtschaftlichen Lasten für Betriebe. Die hohen Krankenstände seien Ausdruck einer allgemeinen Arbeitsunlust, Beschäftigte missbrauchten die einfache Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung.

Die nackten Zahlen bestätigen zwar einen hohen Krankenstand. Die Gründe dafür sind jedoch ein Anstieg psychischer Erkrankungen – die stark mit arbeitsbedingtem Stress und Arbeitsverdichtung zusammenhängen –, eine verbesserte Erfassung von Krankmeldungen durch Krankenkassen sowie mehr Atemwegserkrankungen im Gefolge der Corona-Pandemie.

Die Zahlen weisen also auf Erkrankungen und auf krankmachende Faktoren im Arbeitsleben hin (und bilden sie immer genauer ab). Was sie nicht zeigen, ist eine Fehlsteuerung durch verbriefte Arbeitnehmer*innenrechte. Eine Reduktion von Fehlzeiten ließe sich erreichen, wenn in Betrieben Maßnahmen der Prävention sowie der Gesunderhaltung von Beschäftigten flächendeckend umgesetzt würden. Bislang passiert das noch unzureichend und oft nur halbherzig – etwa mit Blick auf Gefährdungsbeurteilungen oder gesundheitsförderliche Führung

Bürgergeld: Zu hoch und zu einfach verfügbar?

Auch das Bürgergeld wird immer wieder diskutiert: Für Bürgergeldbeziehende, so die Behauptung, seien die Leistungen viel zu hoch und zu einfach zugänglich. Arbeit würde sich für sie nicht lohnen, so gingen wichtige Fachkräfte verloren.

Die empirische Forschung zeichnet ein anderes Bild: Mehrfach wurde berechnet, dass sich Arbeit im Vergleich zum Grundsicherungsbezug in der Regel immer auszahlt. Auch zeigen Daten, dass es nur einen sehr kleinen Anteil an Personen gibt, die aufgrund von Fehlverhalten sanktioniert wurden und werden. Die große Mehrzahl der Grundsicherungsbeziehenden kommt allen Pflichten zuverlässig nach.

Zur Höhe des Bürgergeldes wird angeführt, dass eine weitere Erhöhung eine Art Beleidigung der Erwerbstätigen wäre. Dieser Vorwurf ignoriert jedoch das tatsächliche Verhältnis von Regelbedarf und durchschnittlichen Nettolöhnen und -gehältern sowie die Entwicklung der Verbraucherpreise (bzw. der Kaufkraft). Berücksichtigt man diese, zeigt sich: Die Anpassung der Regelbedarfe erscheint nur dann als „sehr hoch“, wenn die eigentlich zur Beurteilung wesentlichen Vergleichswerte ausgeblendet werden.

Würden die Regelbedarfe eingefroren, wären Bürgergeldbezieher*innen noch weiter von echter Teilhabe entfernt. Zudem änderte sich für alle, die zwar keine Grundsicherung beziehen, es aber mit niedrigen Löhnen und prekären Erwerbssituationen zu tun haben, rein gar nichts. Insofern sind es vor allem zu geringe Löhne und Gehälter, die einer Anpassung bedürfen. Mehr Tarifbindung, auch durch lange überfällige politische Unterstützung, und ein armutsfester Mindestlohn sind die Schlüssel dazu.

Rente: Immer länger arbeiten?

In der Rentenpolitik wird immer wieder gefordert, dass Menschen länger arbeiten (dürfen) sollten. Teils wird die Regelaltersgrenze kritisiert, teils Möglichkeiten des früheren Renteneintritts, teils sollen Rentner*innen durch Anreize bewegt werden, weiterzuarbeiten und einfachere Beschäftigungsmöglichkeiten für Rentner*innen werden angemahnt.

Der Blick der Forschung zeigt zweierlei: Im Durchschnitt arbeiten die Menschen heute bereits länger und gehen später in Rente als frühere Generationen.  Gleichzeitig fällt die Erwerbsbeteiligung in den Jahren kurz vor der Rente weiterhin geringer aus und viele Beschäftigte glauben wegen belastender Arbeitsbedingungen nicht, bis zur Rente ihrer Tätigkeit nachgehen zu können. Es gibt bereits viele Möglichkeiten und auch Anreize zur Weiterbeschäftigung. Anstatt über Erleichterungen für die nachzudenken, die im Rentenalter noch arbeiten können und wollen oder über die Anhebung der Altersgrenze zu spekulieren, wäre es sinnvoller, früher anzusetzen und Menschen im Arbeitsleben darin zu unterstützen, gesund und gerne bis zur Rente zu arbeiten.

Nebenbei: Häufig wird so getan, als ob die Rente für besonders langjährig Versicherte ein illegitimes Geschenk wäre und eine Form der Frühverrentung. Aber ist der Renteneintritt mit den notwendigen 45 rentenrechtlichen Jahren wirklich früh?

Fazit

Über Sozialpolitik muss gestritten werden. Zwei Dinge würden der Debatte helfen: Ein klarer Blick auf die Entwicklungen in ihrer Komplexität. Und ein klares Bewusstsein dafür, welche Interessen mit Bewertungen und Politikempfehlungen verbunden sind. Beides würde helfen, dass sich Beobachtungen und Annahmen nicht zu Mythen entwickeln, die die Diskussion bestimmen, obwohl sie doch nur bestenfalls einen Ausschnitt der Realität repräsentieren. 

Autoren

Eike Windscheid-Profeta leitet in der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung das Referat Wohlfahrtsstaat und Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft. Zuvor war er im Bereich Wissenstransfer und Wissensmanagement tätig.

Florian Blank leitet seit 2009 das Referat Sozialpolitik des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Sozialpolitik und die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung.

Quelle: einblick Februar 2025

DGB-Mythencheck zur Bundestagswahl

 

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