Es war eine historische und zugleich eine beschämende Sitzung: Am 26. Juni hat die Mindestlohn-Kommission Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2024 und zum 1. Januar 2025 um jeweils lächerliche 41 Cent beschlossen – auf dann 12,41 Euro beziehungsweise 12,82 Euro. Historisch war diese Sitzung, weil Arbeitgeber und Gewerkschaften sich erstmals nicht auf eine gemeinsame Position verständigen konnten, sondern die neue Vorsitzende der Kommission von ihrem Stimmrecht Gebrauch machte und mit der Arbeitgeberseite gemeinsame Sache machte. Beschämend war diese Sitzung, weil diese mageren Erhöhungen massive Reallohnverluste bedeuten. Denn der Mindestlohn steigt in den nächsten beiden Jahren gerade einmal um 3,4 beziehungsweise 3,3 Prozent. Die Inflation war und ist bekanntlich deutlich höher.
onat für Monat werden sich die betroffenen Beschäftigten damit weniger leisten können. Inflationsbereinigt wird der gesetzliche Mindestlohn auf Jahre hinaus hinter seinem Stand vom Oktober 2022 zurückbleiben. Richtigerweise hat die Gewerkschaftsseite dieser Lohndrückerei ihre Zustimmung verweigert. Dies als „Kompromiss“ zu bezeichnen, wie es Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger kürzlich getan hat, stellt die Tatsachen geradezu auf den Kopf.
Die Entscheidung der Mindestlohn-Kommission ist ein Schlag gegen die Interessen gerade der Beschäftigten mit den geringsten Einkommen. Letztere waren und sind ohnehin schon stärker von der Inflation betroffen als Personen beziehungsweise Haushalte mit höheren Einkommen. Denn wer wenig verdient, hat weniger Rücklagen, die über magere Zeiten hinweghelfen, und muss anteilig mehr Geld ausgeben für jene Waren, deren Preise in den letzten zwei Jahren besonders stark gestiegen sind: Energie, Sprit, Nahrungsmittel. Für Beschäftigte im Niedriglohnbereich wird es also in den nächsten Jahren immer schwieriger werden, über die Runden zu kommen.
Die Arbeitgeber betreiben damit eine Lohnpolitik ausgerechnet zu Lasten der Schwächsten am Arbeitsmarkt – nach dem Motto: „Wer wenig hat, dem wird auch noch genommen.“ Das zeigt, dass sie noch immer nicht verstanden haben, wie gefährdet der soziale Zusammenhalt in diesem Land mittlerweile geworden ist. Dabei hatte sich die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 als Erfolgsgeschichte erwiesen. Statt von Arbeitgebern und neoliberalen Ökonomen prognostizierten massenweisen Verlusten an Arbeitsplätzen war das Resultat mehr Arbeitsplätze, weniger prekäre Beschäftigung, mehr Kaufkraft und steigende Nachfrage.
Allerdings war es im Rahmen der Mindestlohnkommission nicht gelungen, den Mindestlohn in den Jahren nach seiner Einführung auf ein armutssicherndes Niveau zu heben. Dies haben die Arbeitgeber in der Mindestlohnkommission immer wieder ausgebremst. Deshalb sah sich die Bundesregierung im letzten Jahr gezwungen einzugreifen – unter großem Protest der Arbeitgeber. Per Gesetz wurde der Mindestlohn im Oktober 2022 in einem großen Schritt unabhängig von der Mindestlohn-Kommission von 10,45 Euro auf 12 Euro erhöht. Damit erreichte der Mindestlohn die Höhe von 60 Prozent des mittleren Lohns (der sogenannte „Medianlohn“), was allgemein als armutsfester und existenzsichernder Lohn gilt.
Mit der jetzt gegen die Gewerkschaften durchgesetzten Mini-Erhöhung des Mindestlohns torpedieren die Arbeitgeber mit Unterstützung der Kommissionsvorsitzenden bewusst genau diesen von der Bundesregierung beabsichtigten Erfolg. Obwohl sich die Kommission laut Mindestlohngesetz bei der Festlegung des Mindestlohns nicht nur an der Tariflohnentwicklung orientieren soll, sondern auch daran, dass der Mindestlohn zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beiträgt, wurde nur die Tarifentwicklung berücksichtigt - und diese zudem in einer äußerst trickreichen Weise heruntergerechnet.
Denn die aktuelle Erhöhung wurde auf der Grundlage der 10,45 Euro berechnet, die die Mindestlohnkommission vor der gesetzlichen Erhöhung auf 12 Euro beschlossen hatte. Damit wurde so getan, als hätte es die gesetzliche Erhöhung auf 12 Euro gar nicht gegeben. Dann wurde die prozentuale Entwicklung der Tariflöhne lediglich für den Zeitraum Juni 2022 bis Juni 2023 errechnet, die 7,8 Prozent beträgt. Einer Berücksichtigung der aktuellen und kommenden hohen Inflation hatten sich die Arbeitgeber strikt verweigert. Diese bereits niedriggerechnete prozentuale Erhöhung wurde noch einmal in zwei Erhöhungsschritte von zwei mal 3,9 Prozent aufgeteilt. So kamen die geringen zwei mal 41 Cent zustande, die dann auf die 12 Euro draufgerechnet wurden. Arbeitgeber im Verbund mit der Kommissionsvorsitzenden haben also im Grunde so getan, als hätte es die politisch gewünschte, von demokratischen Mehrheiten getragene Erhöhung im Oktober 2022 nie gegeben.
"Wir werden weiter dafür kämpfen, einen menschenwürdigen, armutsfesten Mindestlohn zu erreichen und zu sichern."
Die Folge: Mit dieser Entscheidung wird der Mindestlohn Monat für Monat real entwertet, da er deutlich hinter der Inflation herhinkt. Damit wird er immer weniger vor Armut schützen. Das ist auch mit Blick auf die Anforderungen der europäischen Mindestlohn-Richtlinie relevant, die im Oktober 2022 vom Europäischen Parlament verabschiedet wurde, und die bis November 2024 in deutsches Recht überführt sein muss. Dort ist festgehalten, dass ein armutsfester Mindestlohn mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns von Vollzeitbeschäftigten betragen sollte. Hieran gemessen, müsste der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland bereits im kommenden Jahr auf 14,13 Euro und im Jahr 2025 auf 14,55 Euro steigen. Der Mindestlohn bleibt also weit von europäischen Vorgaben entfernt.
Die EU-Richtlinie ist aber auch in anderer Hinsicht relevant. Sie benennt mehrere Kriterien, die seitens der Mitgliedstaaten bei der Berechnung des gesetzlichen Mindestlohns zu berücksichtigen sind. Eines davon könnte aktueller nicht sein: „die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten“. Ein weiteres Kriterium ist die Verteilung der Löhne – was nur als Aufforderung verstanden werden kann, die Lohnungleichheit nicht weiter ausufern zu lassen.
Für uns ist klar: Wir werden weiter dafür kämpfen, einen menschenwürdigen, armutsfesten Mindestlohn zu erreichen und zu sichern. Deshalb geht die Aufforderung an die Bundesregierung, den gesetzlichen Mindestlohn auf mindestens 14 Euro pro Stunde zu erhöhen und eine Untergrenze des gesetzlichen Mindestlohns von 60 Prozent des mittleren Lohns im Mindestlohngesetz festzuschreiben.
ver.di-Bundeskongress: Morgen braucht uns!
Unter dem Motto „Morgen braucht uns.“ findet von Sonntag, 17. September, bis Freitag, 22. September 2023, der 6. Bundeskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Berlin statt.
Alle vier Jahre kommen rund 1.000 ver.di-Delegierte aus ganz Deutschland zum Bundeskongress zusammen. Sie repräsentieren alle Bereiche der Organisation: ehrenamtliche Aktive aus allen Berufen, Alters- und Personengruppen, die in ver.di vertreten sind, aber auch aus allen Regionen. Der ver.di-Bundeskongress bestimmt die ver.di-Politik der folgenden Jahre, wählt einen neuen ver.di-Bundesvorstand und den Gewerkschaftsrat, das höchste Gremium zwischen den Bundeskongressen.
Frank Werneke bewirbt sich für weitere vier Jahre als ver.di-Vorsitzender. Als stellvertretende Vorsitzende kandidieren erneut Andrea Kocsis und Christine Behle. Für den ver.di-Bundesvorstand bewerben sich Detlef Raabe, Christoph Meister, Sylvia Bühler und Christoph Schmitz. Neu für den Bundesvorstand kandidieren Rebecca Liebig und Silke Zimmer. Die Wahlen finden am Montag, dem 18. September, statt.