Ende Juni hat die EU-Kommission die Anwendung der neuen EU-Regeln für die Staatsverschuldung gestartet: Länderspezifische Empfehlungen wurden veröffentlicht und Vorgaben (Referenzpfade) für das zulässige Ausgabenwachstum in den nächsten Jahren an die Hauptstädte versandt. Bis Oktober müssen sich jetzt die Mitgliedstaaten mit der EU-Kommission auf "nationale Pläne" einigen, in denen die staatlichen Ausgabenpläne für die nächsten vier Jahre und zentrale Investitions- und Reformvorhaben festgelegt werden.
Bundesfinanzminister Lindner nutzt die Post aus Brüssel für seine eigenen Pläne und behauptet in einem Gastbeitrag im Handelsblatt, nicht nur die deutsche Schuldenbremse, sondern auch die EU verlange von der Bundesregierung einen strikten Sparkurs in den nächsten Jahren. Schuldenfinanzierte Investitionsprogramme seien schlicht nicht möglich. Selbst wenn sich im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit für ein schuldenfinanziertes Sondervermögen fände, setzten die neuen EU-Vorgaben dem Grenzen, so Lindner. Ein genauerer Blick in das neue EU-Gesetzespaket zeigt aber, dass der deutsche Finanzminister die neuen EU-Vorgaben sehr eigenwillig interpretiert.
Richtig ist: Auf die Eurozone rollt eine Sparwelle zu. Würde man die EU-Vorgaben strikt umsetzen, müssten die Euro-Staaten in den nächsten vier Jahren insgesamt Kürzungen von bis zu 360 Mrd. Euro vornehmen. Italien müsste z. B. über 4 Prozent der Wirtschaftsleistung in diesen vier Jahren einsparen. Außerdem wurde gegen sieben Mitgliedstaaten ein "Defizitverfahren" eröffnet. Das heißt: Die Haushaltspolitik der entsprechenden Länder steht unter besonderer Beobachtung, die Sparvorgaben sind dort noch rigider.
Allerdings: Die EU-Referenzpfade zum Ausgabenwachstum sind keineswegs in Stein gemeißelt. Sie stellen nur die Diskussionsgrundlage für die bilateralen Verhandlungen dar, die jetzt starten. Das gilt insbesondere für Länder wie Deutschland, die nicht im Defizitverfahren sind.
Die Grundlage für die Referenzpfade bildet eine "Schuldentragfähigkeitsanalyse", die die EU-Kommission für jeden Mitgliedstaat durchgeführt hat. Diese Analysen haben aber methodische Schwächen und beruhen auf zum Teil nicht nachvollziehbaren Annahmen, etwa was die Zinsentwicklung und die Alterungskosten angeht. Kleine Änderungen der Annahmen hätten einen großen Effekt und könnten bei den Sparanforderungen Druck aus dem Kessel nehmen. Zudem könnte die Bundesregierung darauf bestehen, dass wachstumsfördernde Investitions- und Reformvorhaben in der Schuldentragfähigkeitsanalyse angemessen berücksichtigt werden, um den Ausgabenspielraum zu erhöhen.
Auch die Frage, ob ein schuldenfinanziertes Sondervermögen gegen die neuen EU-Vorgaben verstößt, ist keineswegs klar. Hier bietet das neue Regelwerk Schlupflöcher, die die Bundesregierung konstruktiv nutzen könnte, um mehr investieren zu können. Immerhin hat die EU-Kommission die Bundesregierung in den länderspezifischen Empfehlungen auch explizit aufgefordert, die öffentlichen Investitionen zu stärken.
Der DGB hat an verschiedenen Stellen die neuen EU-Fiskalregeln als verpasste Chance kritisiert. Anders als Bundesfinanzminister Lindner schreibt, bieten die Regeln aber einen begrenzten politischen Handlungsspielraum. Offenbar ist die Bundesregierung nicht dazu bereit, diesen zu nutzen. Der FDP-Finanzminister fühlt sich wohl eher seinem Image als harter Sparkommissar verpflichtet, als der Zukunftsfähigkeit des Landes.