DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell erläuterte auf dem vivavelo-Kongress der Fahrradwirtschaft am 23. September in seiner Keynote den Blick des Deutschen Gewerkschaftsbundes auf die Mobilitätswende und die Rolle der Fahrradwirtschaft. Der gesamte Verkehrssektor steht durch die Digitalisierung und die notwendige Dekarbonisierung unter erheblichem Veränderungsdruck.
Diese Transformation wird nur gelingen, wenn Innovationen und technologische Entwicklung mit sozialem Fortschritt verbunden werden. Der DGB will, dass die Beschäftigten in allen Verkehrssparten, also auch in der Fahrradwirtschaft, mitwirken können an diesem immer schnelleren Wandel. Gute Arbeit und die Berücksichtigung der Kenntnisse und Interessen der Beschäftigten sind unverzichtbar für eine sozialverträgliche und deshalb erfolgreiche Mobilitätswende.
Sowohl verkehrs- als auch beschäftigungspolitisch interessant ist für den DGB die dynamische Entwicklung der Fahrradwirtschaft. Sie hat auch in der Coronakrise erheblich investiert und neue Kapazitäten am Wirtschaftsstandort Deutschland geschaffen. Das lag unter anderem am Boom im Fahrradtourismus, an der Einführung der Ein-Prozent-Regel beim Dienstradleasing und der erheblichen Wertsteigerung durch E-Bikes. Pedelecs waren im ersten Pandemiejahr der Umsatztreiber.
Die Radbranche geht davon aus, dass mittel- bis langfristig jedes zweite Fahrrad einen E-Antrieb haben wird. Die meisten Fahrradimporte kommen aus Kambodscha: 22 Prozent der 3,7 Millionen nach Deutschland eingeführten Bikes stammen von dort, gefolgt von Polen, Bangladesch und Bulgarien. Ziel sollte aus DGB-Sicht sein, wie in der Autoindustrie zunehmend Teile des Antriebsstrangs hierzulande zu produzieren, um hochqualifizierte und gut bezahlte Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern und zu schaffen.
Wachstum und Beschäftigung in der Fahrradbranche
Die Fahrradbranche sieht erhebliche Wachstumspotentiale in allen Bereichen und betont ihre wirtschaftliche Bedeutung jenseits von klima-, umwelt- und gesundheitspolitischen Aspekten. Gerade in strukturschwachen Regionen könne der Fahrradtourismus eine große Rolle für die regionale Wirtschaft spielen. Bikesharing ist in Großstädten weitgehend etabliert, hinzu kommen neuerdings auch E-Bikes und Lastenräder.
Aktuell sind 281.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte – und Selbstständige in der Fahrradbranche beschäftigt. In den Kernbereichen Produktion, Handel und Dienstleistungen stieg die Zahl der Beschäftigten von 2014 bis 2019 um 20 Prozent auf 66.000 Arbeitsplätze.
Im Vergleich zu anderen Verkehrsbranchen wie der Automobilindustrie (2019: 832.000) oder der Bahnbranche einschließlich Gleisbau (269.000) sind dies noch relativ wenig. Der größte Teil ist mit 204.000 Beschäftigten im Fahrradtourismus tätig. Aber der Umsatz stieg von 2013 bis 2018 um 55 Prozent auf 37,7 Milliarden Euro, in der Herstellung um 46 Prozent auf 6,9 Mrd. Euro; im Handel um 55 Prozent auf 16,7 Mrd. Euro, Umsatztreiber ist der Werkstattbereich mit Services und Reparaturen; im Fahrradtourismus wurden 2018 11,59 Mrd. Euro erwirtschaftet. Die größte Dynamik hatte mit plus 608 Prozent die Dienstleistungssparte, als Sharing, Verleih und Leasing – wenn auch noch auf vergleichsweise geringe 560 Mio. Euro.
Seit 2012 gibt es das sogenannte Dienstradleasing. Beschäftigte können Fahrräder über ihren Arbeitgeber beziehen. Die Räder sind ohne Einschränkungen privat nutzbar, müssen aber wie Dienstwagen versteuert werden. Die Anzahl der geleasten Fahrräder und E-Bikes hat sich zwischen 2017 und 2019 auf über 200.000 vervierfacht.
Mobilitätswende auf zwei Rädern
Für den DGB ist das Fahrrad verkehrspolitisch ein Treiber der Mobilitätswende – auch in Verbindung mit dem öffentlichen Verkehr. Gute Lohn- und Arbeitsbedingungen, Tarifbindung und Mitbestimmung sind aus Gewerkschaftssicht die Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung der Fahrradwirtschaft. Bei der Fachkräftesicherung gilt es, das duale Ausbildungssystem zu stärken und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Darauf aufbauend können Gewerkschaften und die Fahrradbranche bei einigen Themen an einem Strang ziehen, um die Mobilitätswende voranzubringen:
Infrastrukturinvestitionen
Der DGB fordert mehr öffentliche Investitionen in die Mobilitätswende. Die Bundesregierung muss insbesondere in den Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge erheblich stärkeres Engagement zeigen. Bei der Schiene wie auch im Öffentlichen Nahverkehr geht es bis 2030 jährlich um rund 10 Milliarden Euro – zusätzlich. Für mehr Radverkehr ist ein Ausbau der Radinfrastruktur und die Reform des Straßenverkehrsgesetzes und der StVO erforderlich, damit die Kommunen besser auf die Bedürfnisse vor Ort eingehen können. Auch die Förderung von Lastenrädern für die Stadtlogistik sowie des Fahrradtourismus im ländlichen Raum – kann der DGB unterstützen. Nicht zuletzt dürfte Einigkeit über den erheblichen Nachholbedarf beim Breitbandausbau und bei der Ladeinfrastruktur geben.
Vernetzung der Verkehrsträger
Wie attraktiv die kombinierte Nutzung verschiedener Verkehrsmittel ist, hängt wesentlich davon ab, wieviel Zeit beim Wechsel zwischen Rad, Bus und Bahn vergeht. Die digitale Vernetzung der Angebote des Umweltverbundes verspricht Informationen in Echtzeit, schnellere Verbindungen, mehr Effizienz und Zufriedenheit bei den Kunden. Auch Angebote wie Bike&Ride und die Fahrradmitnahme steigern die Attraktivität des Öffentlichen Verkehrs. Hier liegt eine enge Kooperation mit der Deutschen Bahn in beiderseitigem Interesse.
Verkehrssicherheit
Deutsche Städte investieren im internationalen Vergleich sehr wenig in sichere Radwege: Oslo gibt im Jahr 90 Euro pro Einwohner aus, Kopenhagen 35 Euro. Selbst in Stuttgart – mit 5 Euro deutscher Spitzenreiter – wird nicht halb so viel investiert wie in Amsterdam (11 Euro). Köln, Hamburg oder München geben weniger als 3 Euro im Jahr für die Sicherheit Rad fahrender Stadtbewohner*innen aus.
Es ist deshalb kaum überraschend, dass die Zahl der Verkehrstoten im letzten Jahrzehnt um 13 Prozent sank, die Zahl der tödlich verunglückten Radfahrer aber konstant blieb. Die oft mangelhafte Infrastruktur ist ein Grund, warum sich 85 Prozent der Radfahrenden unsicher fühlen und viele gar nicht erst aufsteigen. Im internationalen Vergleich steigen auch wenig Pendler*innen aufs Rad.
Betriebliches Mobilitätsmanagement
Der berufliche Pendlerverkehr ist für den DGB ein zentrales Thema, denn unsere Mitglieder verbringen immer mehr Zeit auf ihrem Arbeitswegen. Deshalb fordert der DGB, dass alle Unternehmen und Verwaltungen mit mehr als 100 Beschäftigten betriebliche Mobilitätsstrategien vorweisen müssen, damit ihre Beschäftigten klimafreundlicher und ohne Stress zur Arbeit kommen.
Betriebsräte und Gewerkschaften können Treiber einer nachhaltigen Entwicklung der Mobilität sein: in mitbestimmten Betrieben, in den Regionen und in der Landes- und Bundespolitik, u.a. für eine fortschrittliche gesetzliche Rahmensetzung zum Beispiel für neue Investitions- bzw. Verschuldungsregeln, gerechtere Steuern, mehr Handlungsspielraum für die Kommunen und für mittelfristig sozial und ökologisch ausgerichtete Förderkulissen.