In ihrer ersten Rede zur Lage der Europäischen Union im September 2020 kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, zügig einen Rahmen für Mindestlöhne in der Europäischen Union vorzuschlagen. "Mindestlöhne funktionieren, und es ist Zeit, dass Arbeit sich lohnt", sagte sie damals. Genau darum muss es jetzt gehen: Eine Richtlinie zu verabschieden, die über Regelungen zu angemessenen Mindestlöhnen einen Meilenstein hin zu einem sozialen Europa schafft. Hierzu gehören ebenfalls, wie bereits im Richtlinienentwurf enthalten, Maßnahmen, um Tarifverhandlungen zu fördern und das öffentliche Auftragswesen zwingend an Tariftreue zu koppeln.
Die Zeit läuft. Wichtige Abstimmungen stehen demnächst im Europäischen Parlament an: im Beschäftigungsausschuss nach jetzigem Stand Ende Oktober 2021 und danach im Plenum. Auch der Europäische Rat diskutiert den Richtlinienentwurf schon seit längerer Zeit und arbeitet an einer Positionierung. Umso wichtiger ist es daher, nochmals auf die dringende Notwendigkeit der Richtlinie hinzuweisen: Es wäre ein entscheidender Meilenstein in der Geschichte der EU, um die Weichenstellung hin zu einer sozialeren Ausrichtung Europas vorzunehmen, eines Europas, das niemanden zurücklässt. Der Koalitionspartner CDU in der Bundesregierung hat eine eindeutige Positionierung für den RL-Entwurf bisher im Rat vermieden. Es wird Aufgabe einer künftigen Regierung sein, das Vorhaben nachdrücklich zu unterstützen und nicht weiter zu blockieren.
Erwerbsarmut, abgesenkte oder gar keine Mindestlöhne für junge Menschen, Abzüge vom Mindestlohn - etwa für Uniformen -, sinkende Tarifbindung und schwindende Mittelschicht, Auftragsvergabe an den billigsten Anbietenden, um nur einige Punkte zu nennen. All das sind Erscheinungsformen einer Arbeits- und Wirtschaftswelt, die Europa überwinden muss. Es geht um die Würde der Beschäftigten der EU und damit auch um die Akzeptanz des Staatenbundes durch seine Bürger*innen in Zeiten, in denen populistische Strömungen auf dem Vormarsch sind. Denn wie sollen Bevölkerungsschichten, die – teilweise dauerhaft - in prekären Arbeitsverhältnissen leben, eine EU akzeptieren, die Armutslöhne und Erwerbsarmut hinnimmt und nicht bekämpft?
Der DGB setzt sich daher dafür ein, dass Mindestlöhne in der EU angemessen sein müssen. Dies ist aus Sicht des DGB dann der Fall, wenn keine Mindestlöhne unterhalb des doppelten Schwellenwertes von 60 Prozent des nationalen Medianlohns und 50 Prozent des nationalen Durchschnittslohns (jeweils bezogen auf Vollzeitbeschäftigte) liegen dürfen. Da eine feste Lohnuntergrenze derzeit im Richtlinienentwurf fehlt und nur diese eine effektive Wirkung garantiert, muss sie ergänzt werden. Oberhalb dieser Lohnuntergrenze können, ja müssen die Mitgliedstaaten dann ihre nationalen Mindestlöhne festlegen. Auch muss die Richtlinie ausschließen,
- dass bestimmte Personengruppen vom gesetzlichen Mindestlohn ausgenommen sind,
- dass es verschiedene Mindestlohnsätze gibt sowie
- dass Abzüge vom gesetzlichen Mindestlohn erlaubt werden. Bezogen auf diese Punkte sollten Änderungen am Richtlinienentwurf erfolgen.
Begrüßt wird, dass die Mitgliedsstaaten bei einer Tarifabdeckung unter 70 Prozent nationale Aktionspläne unter Beteiligung der Sozialpartner erstellen müssen, um zukünftig eine nationale Tarifabdeckung von mindestens 70 Prozent zu erreichen. Damit würde die Stärkung der Tarifbindung in der öffentlichen Diskussion bleiben und in regelmäßigen Zeitabständen Abstimmungen zwischen den Sozialpartnern und der Regierung notwendig werden, wodurch der Trend zu sinkender Tarifabdeckung endlich gebrochen wird.
Ein wichtiger weiterer Aspekt zur Stärkung der Tarifbindung sind Tariftreueklauseln. Hierzu enthält der Richtlinienentwurf einen Ansatz, der allerdings noch nachgeschärft werden muss. Zwingende Tariftreueklauseln sollten nicht nur für die Bereiche Vergabe und Konzessionen – wie im Richtlinienentwurf vorgesehen – gelten, sondern auch für die Vergabe öffentlicher Fördergelder. Der Staat sollte mit gutem Beispiel vorangehen und nicht auf Anbieter*innen setzen, die die niedrigsten Löhne zahlen. Öffentliche Vergabe und Subventionen an den Billigstbieter ist kurzsichtig, da diese Praxis am Ende zu höheren staatlichen Sozialausgaben und sinkenden Steuer- und Beitragseinnahmen für die Sozialversicherungen führt, wodurch wiederum die Handlungsfähigkeit des Staates eingeschränkt wird.
Es bleibt daher dabei: Den Worten von Ursula von der Leyen müssen jetzt Taten folgen. Wir brauchen eine effektive Richtlinie in diesem wichtigen Bereich der Löhne. Es ist eine historische Chance der EU, die nicht vertan werden darf.