Der digitale Windkraftstreik

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Jeden Tag um 9 Uhr fährt Kai Hamann seinen Computer hoch, so wie rund 300 Beschäftigte an dutzenden anderen Orten in Deutschland. Es wird über die Firma geredet, über das Wetter, manchmal prominenten Gästen zugehört. Es hört sich an wie das tägliche Homeoffice digitaler Nomad*innen – aber es ist das Gegenteil: Die Männer – und eine Frau – streiken. Der Bildschirm ist ihr digitales Streikzelt, vor dem sie sich täglich zwei Mal versammeln. „Wir wollen endlich einen Tarifvertrag, mit anständiger Lohnerhöhung, mit geregeltem Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und Altersteilzeit“, sagt Vestas-Betriebsrat Kai Hamann, und wenn man ihn hört, dann ist klar: Dieser Streik kann dauern. „Ich bin eine Kampfmaschine“, sagt der Elektriker.

Der erste digitale Streik

Hamann und seine Kollegen sind Servicetechniker*innen des dänischen Konzern Vestas, dem weltweit führenden Windkraftanlagenhersteller. Rund 1700 Mitarbeitende hat der Konzern, davon 700 Servicetechniker*innen – von denen die Hälfte streikt. Es sind die Expert*innen, die die Energiewende sicherstellen und dafür oft bei Wind und Wetter in und an den Windrädern arbeiten. Sie brechen gerade einen Rekord: Der Streik gehört mit über 120 Tagen bereits jetzt zu den längsten, die Deutschland je erlebt hat. 1956 haben die Metaller*innen 114 Tage gestreikt, und 2005/2006 die Busfahrer*innen in Leverkusen satte 395 Tage. Und der Vestas-Streik ist der erste, der digital durchgeführt wird.

Der Streik gehört mit über 120 Tagen bereits jetzt zu den längsten, die Deutschland je erlebt hat.

„Ohne Tarifvertrag sind wir Bittsteller“, sagt Hamann. „Vestas hat zwar mal gute Löhne gezahlt, aber das ist lange her. Seitdem gab es hier einen Bonus, und dort mal etwas mehr Geld – aber immer mit Druck, mehr zu leisten, und ohne Verhandlungen und Vertrag. Das geht nicht. Wir lassen uns seit Jahren vertrösten. Es reicht. Die Inflation ist jetzt auch beim letzten Kollegen angekommen.“

Gut im Geschäft

Dabei ist es nicht so, dass Vestas die Löhne nicht erhöht. „Aber sie liegen 10 bis 20 Prozent unter dem Niveau des Flächentarifs der Metall- und Elektroindustrie“, sagt Martin Bitter, Bevollmächtigter der IG Metall Rendsburg. Da Betriebsräte keinen Streik ausrufen dürfen, hat es die IG Metall getan. „Der Streik war die letzte Lösung – die Forderung nach einem Tarifvertrag haben wir bereits im April vergangenen Jahres aufgestellt.“ Aber Vestas stellt auf stur, obwohl im Heimatland Dänemark ein Tarifvertrag gilt.

Dabei geht es dem Unternehmen gut: Allein im Juni gab es drei große Aufträge, aus den USA, Schottland und Finnland. Die renommierte US-Bank JP Morgan bewertete die Aktie des Unternehmens gerade erst als „unterbewertet“. Und es fehlen Fachkräfte an allen Ecken und Enden – allein für den Service werden in Deutschland 39 Elektriker*innen gesucht; Vestas wirbt dazu mit einer „attraktiven Vergütungsstruktur“ auf der Webseite.

Im Frühjahr sah es kurz so aus, als wenn die Streikenden ihr Ziel erreicht hätten. Vestas hatte immerhin ein Angebot auf den Tisch gelegt – eine Inflationsprämie von 2200 Euro und 5,4 Prozent Lohnerhöhung. Allerdings bei einer Laufzeit von zwei Jahren und bei einer Inflation, die deutlich höher liegt. Vor allem fehlte aber das wichtigste Ergebnis: Ein Tarifvertrag, mit entsprechenden regelmäßigen Verhandlungen.

Der Streik ging und geht deswegen weiter. Es gab Kundgebungen in Berlin, Besuche bei Fraktionen des Bundestags, Besuch von Betriebsräten anderer Energiefirmen. „Die Politik ist auf solche Unternehmen angewiesen, wenn man das Ziel Verdopplung Windstrom bis 2030 schaffen will“, sagt Bitter. Und so wie die Politik den Konzern braucht, braucht der Konzern die Techniker*innen.

Die Unterstützung aus Politik, Gewerkschaften und Gesellschaft ist bei dem digitalen Streik wichtig. Und das auch finanziell. Zwar gibt es Streikgeld, aber das reicht nicht, etwa dort, wo vor dem Streik ein Hauskredit aufgenommen wurde, oder eine größere Familie versorgt werden muss. Deswegen fließen auch Spenden – und das reichlich.

"Vestas geht es offensichtlich ums Prinzip. Dabei verursacht der Streik hohe Verluste"

Denn es könnte dauern. „Vestas arbeitet auch mit Schikanen. Dann müssen die Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel das Dienstfahrzeug am Lager abstellen – aber das ist 100 Kilometer vom Zuhause entfernt und irgendwo auf dem Land. Oder sie bieten Streikbruchprämien: Wer arbeitet, bekommt 150 Euro mehr“, berichtet Bitter.

Aber auch von solchen Aktionen lassen sich die Beschäftigten nicht vom Streik abhalten. „Streikcall“ nennen die gut organisierten Servicetechniker*innen die täglichen Treffen über Teams. Anders streiken geht nicht, denn die Beschäftigten sind bundesweit an über 200 Standorten verteilt, mal zu zweit, mal auch vier oder fünf Techniker*innen, um die Windparks zu betreuen. Manchmal sind sie nah genug beieinander, um gemeinsam zu grillen oder zu frühstücken. In dem Call scannen die Streikenden auch jedes Mal einen QR-Code, über den das Streikgeld organisiert ist. „Das läuft besser als wir erwartet haben“, sagt Betriebsrat Hamann. Auch er rechnet damit, dass es noch dauern wird, bis der Konzern einlenkt. „Vestas geht es nicht um Geld, sondern um Macht“. Der Konzern wolle nicht mit einer Gewerkschaft über Lohnerhöhungen und Arbeitsbedingungen verhandeln, sondern nur mit dem Betriebsrat. „Man will sich nicht in die Karten gucken lassen“, sagt Hamann.

Den Eindruck hat auch die IG Metall. „Vestas geht es offensichtlich ums Prinzip. Dabei verursacht der Streik hohe Verluste“ sagt Bitter. Die Gewerkschaft schätzt die Kosten auf einen dreistelligen Millionenbetrag. „Es ist schon erstaunlich, was ein Weltkonzern hier in Kauf nimmt.“ Und das ohne Grund: Es gibt genügend Vorbilder in der Branche. Omexom, Siemens Gamesa, OWS Offshore Wind Service – sie alle arbeiten mit einem Tarifvertrag.

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